Johann Wolfgang von Goethe in Kaltennordheim

Der Dichterfürst J. W. Goethe hielt sich in seinen jungen Jahren wiederholt in Kaltennordheim auf. Erstmals besuchte er diese Kleinstadt im oberen Tal der Felda, am Osthang der Rhön, im Jahre 1780.

Der Herzog von Sachsen-Weimar-Eisenach, Carl August (1757 - 1828), inspizierte im September dieses Jahres seine Besitztümer, die bis in die Thüringische Rhön und nach Bayern (Ostheim) hineinreichten. Auch ein Besuch seines Vetters, des Herzogs Karl von Sachsen-Meiningen, gehörte zu seinen Reiseplänen.
Zum Gefolge von Herzog Carl August gehörte der damals dreiunddreißigjährige Goethe. Als Dichter war er bereits über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt. Seit 1775 befand er sich am herzoglichen Hof in Weimar. Als Geheimer Rat gehörte Goethe zur obersten Regierungsbehörde des Landes, dem Consilium. Er leitete auch die „Kriegskommission", die „Wegekommission" und die „Bergwerksdirektion".
Während dieser Reise gehörte die geologische Erkundung des Landes, die Besichtigung von Anlagen zur Wiesenwässerung und Verhandlungen mit der herzoglichen Regierung in Meiningen zu den Aufgaben Goethes.
Die Reise Goethes, zu Pferd und stets an der Seite seine Landesherren, führte von Weimar über Ilmenau, Stützerbach, Schmalkalden, Zillbach, Kaltennordheim, Ostheim v.d. Rhön nach Meiningen. In Kaltennordheim, dem Zentrum eines Amtsbezirks in Sachsen-Weimar-Eisenach, mit Justiz- und Steuerbehörde, war ein Aufenthalt von mehreren Tagen vorgesehen. In der Stadt lebten um diese Zeit kaum mehr als 1500 Einwohner. Am 13. September 1780, gegen Mittag, traf der Herzog, mit ihm Goethe, in Kaltennordheim ein. Herzog Carl-August, Goethe, Oberstallmeister von Stein (Gemahl der Charlotte von Stein), Oberforstmeister von Arnswalden und andere, wohnten im neuen Schloss, dem damaligen Amtshaus, das 1752-54 auf den Ringmauern des alten Schlosses (Merlinsburg) erbaut wurde.
Am Abend des 13. September berichtete Goethe seiner verehrten Charlotte von Stein: „Der Herzog liest, Stein raucht mit Arnswalden eine Pfeife, und wenn ich nichts zu thun oder zu beobachten habe, mag ich nur mit Ihnen reden."


Nahezu täglich schrieb er ihr einen Brief. Bevor der Tag zu Ende ging, hatte Goethe ein ausführliches Gespräch mit dem Engländer George Batty, der als Landkommissar im Eisenacher Amte wirkte.
Nach seinen Plänen waren bei Melpers und Ostheim v.d. Rhön Bewässerungsanlagen entstanden, deren Besichtigung bevorstand. Goethe ließ sich gründlich informieren. Am folgenden Tage wurden diese Anlagen bei Melpers besucht. Der Herzog und Goethe waren zufrieden über die einfachen und funktionstüchtigen Bauten.
Von Melpers nach Kaltennordheim zurückgekehrt, erwarteten Goethe Gespräche mit dem Geheimen Rat Hieronymus Heinrich von Hinckeldey. Er wohnte in Sinnershausen bei Meiningen und galt als Kenner der Rechte. Herzog Carl August hatte ihn zum Essen eingeladen. Goethes Gedankenaustausch mit Herrn von Hinckeldey diente der Vorbereitung auf die Verhandlungen mit der herzoglichen Regierung in Meiningen. Goethe war mit diesen Gesprächen zufrieden und bezeichnete den Gast als „ein sehr pfiffiges Kind dieser Welt.” Zwischen Sachsen-Meiningen und Sachsen-Weimar-Eisenach gab es seit langem einen Streit um die uralten Holzrechte der Meininger Untertanen in den Zillbacher Forsten. Goethe hatte den Auftrag, Verhandlungen zur Lösung dieser Konflikte einzuleiten. Mit deren Vorbereitung hatte er am 14. September 1780 noch einige Stunden zu tun. „In meinem Kopf ists wie in einer Mühle mit vielen Gängen wo zugleich geschroten, gemahlen, gewalckt und Oel gestossen wird" - so klagt Goethe danach. Dennoch nahm sich der leidenschaftliche Geologe und Mineraloge Goethe noch die Zeit, Gesteinsproben von den Basaltkuppen bei Kaltennordheim zu betrachten und mit dem kundigen „Dekanus" der Stadt zu fachsimpeln.
Goethe schrieb: „... über den Basalt der hiesigen Gegend hat der Dekanus von hier einen kühnen Einfall gehabt.”


Als der 14. September sich neigte, war Goethe mehr als 15 Stunden auf den Beinen. Die meiste Zeit davon musste er sich mit „Welthändel”, d.h. mit Politik beschäftigen. Der Inhalt dieser Tätigkeit unterlag der Schweigepflicht. Daher beschrieb Goethe sein Befinden oft in Gleichnissen. So auch in einem Brief an Charlotte von Stein am 14. September 1780: „Heute in dem Wesen und Treiben, verglich ich mich einem Vogel der sich aus einem guten Endzweck in's Wasser gestürzt hat, und dem, da er am Ersauffen ist, die Götter seine Flügel in Flosfedern nach und nach verwandeln. Die Fische die sich um ihn bemühen, begreifen nicht, warum es ihm in ihrem Element nicht sogleich wohl wird."
Aber der jüngere Goethe vermochte seine Pflichten als Staatsdiener und seine künstlerischen Intentionen noch glücklich zu vereinen. Diese Mentalität beschrieb er am gleichen Tage so: „Und wenn ich denke ich siz-ze auf meinem Klepper und reite meine pflichtmässige Station ab, auf einmal kriegt die Mähre unter mir herrliche Gestalt, unbezwingliche Lust und Flügel und geht mit mir davon." Einen Tag später, am 15. September 1780, grüßte Goethe Charlotte von Stein mit dem in Kaltennordheim gedichteten hymnischen Preislied auf die Phantasie:


„Welcher Unsterblichen Soll der höchste Preis seyn? Mit keinem streit ich,
Aber ich geb ihn Der ewig beweglichen
Immer neuen Seltsamsten Tochter Jovis Seinem Schooskinde Der Phantasie ..."


Es ist die Ode, die Goethe später (1789) - etwas verändert - mit der Überschrift „Meine Göttin” versah. Darin huldigt er die Phantasie und stellt halb ernst, halb im Scherz „Verwandschaftsbeziehungen" zwischen der Phantasie, der Weisheit und der Hoffnung her.


Über Goethes Aufenthalt in Kaltennordheim am 16. und 17. September 1780 wissen wir wenig. Die Quellen fließen spärlich. Sicher ist, dass der die Stadt näher in Augenschein nahm und „eine leidige Scizze unsres leidigen Aufenthalts” anfertigte.
Die heute 400 Jahre alte Linde im Schlosshof fand gewiss auch die Aufmerksamkeit des empfindsamen Geheimrats. Ob sich Goethe zum Braunkohlengebiet in der Nähe der Stadt begeben hat, ist nicht belegt. Seine leidenschaftlichen geologisch-mineralogischen Interessen sprechen dafür. Immerhin war dieses Gebiet als Fundstätte für ein reiches Versteinerungsmaterial bekannt. Dazu gehörten auch kleine Samen in der Kohle, die von einem Froschbissgewächs, der Krebsschere (Stratiotes kaltennordheimensis), herrühren.
In Goethes Schriften zur Geologie und Mineralogie findet sich die Notiz: ,,Samen von KaltenNordheim aufzusuchen." Schließlich deutet auch der Kauf der Gruben durch die herzogliche Kammer Sachsen-Weimars im Jahre 1782 auf vorangegangene Besichtigung hin.


Am 18. September 1780 haben Herzog Carl August und sein Gefolge, damit auch Goethe, Kaltennordheim wieder verlassen. Am Tage der Abreise fühlte sich Goethe recht übel.
„Es ist mir alles in den Weeg gekommen ..." klagte er. Offensichtlich war ihm zu viel aufgebürdet worden.
Für die Bewohner Kaltennordheims gab es vor der Abreise der hohen Gäste eine seltene Belustigung. Des Herzogs Oberstallmeister von Stein, der auf seinem Stammgut in Kochberg Ochsen mästete, hatte während der Reise Ochsen des fränkischen Schlages gekauft. Sie wurden zu einer Herde zusammengestellt und von Kaltennordheim aus, in Richtung Kochberg, in Bewegung gesetzt. Den schönsten Tieren hatte man Botschaften an die Hörner gesteckt. Goethe und der Herzog schrieben komische Verse. Einem Ochsengespann wurde folgende Botschaft an Frau von Stein angeheftet:


„Den Ochsen band einst Hannibal
Auf ihre Hörner Bränder Und jagte so der Römer Schaar
In ihre eigenen Länder Dieß edle, breitgehörnte Paar
Muß es jetzt anders treiben! Denn es verließ die Brüder Schaar
Und muß in Kochberg bleiben. Doch ohne Bränder auf dem Kopf
Nein, nur mit süßen Zetteln.
Verneigen sie den dicken Schopf,
Um deine Gunst zu betteln. So betteln wir auch from und zahm
Gleich andern wilden Thieren
Du wollest unsre Verse lahm Mit Nachsicht gnädigst schmieren.”


In Weimar wertete Goethe die geologisch-mineralogischen Funde der Reise aus. Über den Raum Kaltennordheim vermerkte er „Von Gesteinen ist sehr viel gesammelt worden ...". An Johann Heinrich Merck schrieb Goethe am 11. Oktober 1780 näheres über die Funde während der Reise:
„Wir haben ganz unstreitig Vulkans entdeckt ..., Lavaglas, Lava, Tarasgestein und alle Sorten von Basalt, nicht etwa zusammengesucht und gelesen ..., sondern alles in einem Bezirke von wenigen Stunden und mit Händen greifbar."
Schon im Sommer 1780 hatte Goethe den Sekretär der Bergwerkskommission in Weimar, Johann Carl Wilhelm Voigt, beauftragt, eine mineralogische Beschreibung des Landes anzufertigen. Gestützt auf eigene Erfahrungen und die Ergebnisse Voigt's kam Goethe schließlich zu der Erkenntnis, dass ,, ... sich ... der Tolmar (Dolmar), die Gleichberge und sodann die ganze Rhön unwidersprechlich basaltisch zeigen ...".
Im April 1782 besuchte Goethe erneut Kaltennordheim. Wieder befand er sich auf einer dienstlichen Reise, die mit seiner Verantwortung als Leiter der „Kriegskommission" des Herzogtums zusammenhing. Es ging um die Aushebung und Musterung von Rekruten. Zugleich besuchte er einige thüringische Höfe, darunter auch Meiningen. Uber Gotha, Eisenach, Tiefenort, Barchfeld und Probstei Zella, ritt Goethe nach Kaltennordheim.
Am 9. April 1782 traf er hier ein. Wieder übernachtete er im Amtshaus. Charlotte von Stein teilte er mit, er wohne in der Stube wo wir vor anderthalb Jahren die Verse mit den Ochsen abfertigten ..."
Goethes Aufenthalt war nur kurz. Er nahm an der Musterung der Rekruten teil. Am nächsten Tage ritt er nach Ostheim v.d. Rhön weiter, ebenfalls zur Musterung. Goethe war ein Verfechter der militärischen Abrüstung. Die von ihm bewirkte Reduzierung des Truppenbestandes machte im Jahre 1785 eine erneute Einberufung von Rekruten im Eisenacher Amt überflüssig. Leider fand Goethes Tun auf diesem Gebiet später kaum Nachahmung.
Wenn Kaltennordheim 1995 den 1200. Jahrestag seit der ersten urkundlichen Erwähnung des Ortes feiert, dann werden die Bürger der Stadt sicher auch den Aufenthalt des Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe in ihrer Stadt zu würdigen wissen.

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