Das 19. Jahrhundert - Umbruch, Verschuldung, Verarmung und Auswanderung

Das gesamte 19. Jahrhundert war gekennzeichnet von einem großen Umbruch der Gesellschaft, sowohl in der Staatsführung als auch im produzierenden Gewerbe, im Handel und in der Landwirtschaft. Bereits im letzten Drittel des 18. Jh. suchte man nach neuen Möglichkeiten zur Stabilisierung des Lebensunterhaltes. So bemühten sich die Regenten Sachsen-Weimars um neue Erwerbsmöglichkeiten, wie im vorausgegangenen Beitrag beschrieben.

In verschiedenen Städten wurden erste Manufakturen gegründet. So u.a. in Ilmenau, Suhl, Schmalkalden, Eisfeld, Zella-Mehlis. In der Landwirtschaft versuchte man durch ein groß angelegtes „Ökonomieprogramm" die Erträge zu steigern. Das Anlegen von Baumschulen, der Anbau von Kartoffeln und Rüben sowie zahlreicher neuer Gemüsesorten wurden stark gefördert.
In diese Zeit fiel auch der Besuch von Herzog Carl August v. Sachsen-Weimar-Eisenach, seinem Staatssekretär J.W. Goethe und Oberforstmeister Arnswalden in den Jahren 1780 und 1782 in der Rhön. Neben geologischen Untersuchungen, militärischen und diplomatischen Aufgaben, bemühte sich Goethe in verschiedenen Orten auch um eine Verbesserung von Wiesenbewässerungssystemen als Grundlage für eine bessere Weidewirtschaft.


In der Forstwirtschaft wurden Verbesserungen angestrebt, mit dem Ziel, den Holzhandel und die Holzverarbeitung zu fördern. 1786 gründete der Oberforstmeister Heinrich Cotta im Auftrage des Herzogs Carl Alexanders die Forstschule in Zillbach. Cotta führte wesentliche Reformen in der Forstwirtschaft ein. Seine Aufgabe stand unter dem Motto: „Mehr Brot, mehr Holz, mehr Erwerb!"
An einen Aufschwung der sozialen Lebensbedingungen in der Rhön war jedoch noch lange nicht zu denken. Im Gegenteil. Nachdem sich in den aufstrebenden Industriezentren die ersten Manufakturbetriebe herausgebildet hatten, kam es zu einem drastischen Preisabfall der im heimischen Gewerbe hergestellten Waren.
Nach einer Statistik von Schultes lebten im Jahre 1804 in Kaltennordheim 1170 Einwohner in 230 Häusern. 71 waren Weber, 68 Riemenstockmacher und Peitschenmacher, 38 Schuster und 37 Rotgerber.
Eine negative Auswirkung auf die Wirtschaft hatten außerdem noch immer zahlreiche veraltete Zoll-, Handels- und Zunftverordnungen.
Durch Erbteilungen über Jahrhunderte hatte sich der Grundbesitz der Familien wesentlich verringert. Hinzu kam ein starker Anstieg der Bevölkerungszahlen besonders in den Rhöndörfern. Familien mit 10 bis 12 Kindern waren keine Seltenheit. Aus all diesen Gründen wuchs die Armut in den Dörfern und Kleinstädten der Rhön um die Mitte des vorigen Jahrhunderts ins Unermessliche.


Durch das sogenannte „Judendekret" von 1752 der Herzogin Amalie von Sachsen-Weimar, war den Bürgern jüdischen Glaubens jegliches Betreiben eines handwerklichen Betriebes untersagt, lediglich der Handel blieb ihnen als Broterwerb erlaubt. Infolge der Zentralisierung und Spezialisierung verschiedener Wirtschaftszweige kam es aber ab Mitte des 19. Jh. zu einem Aufblühen des Handels besonders in den Kleinstädten, was viele jüdische Kaufleute veranlasste, sich in diesen Marktzentren niederzulassen. In unserer Umgebung waren dies vor allem die Stadt- und Marktflecken Kaltennordheim, Fladungen, Hilders, Tann, Geisa, Vacha, Phillipstal, Stadtlengsfeld und Wasungen.
Die meisten Landwirte in der Rhön waren Kleinbauern. Im oberen Feldatal betrug der durchschnittliche Landbesitz 2 bis 5 Hektar. Der Ertrag auf diesen Flächen war auf Grund der Bo60 den Verhältnisse und der Klimabedingungen gering. So war man auf einen gewerblichen Zusatzverdienst angewiesen. Auch in unseren Rhönorten ist eine örtliche Spezialisierung dieser Zeit erkennbar. Einige Beispiele seien hier genannt: So gab es in Andenhausen und Brunnhartshausen überwiegend Holzschuh- und Mollenmacher sowie Rechenmacher, in Empfertshausen Peitschenmacher, Druckstempel Schnitzer und ab etwa 1830 überwiegend Pfeifenkopf Schnitzer und Drechsler. Klings war vorwiegend ein Weberdorf. Vor allem das allerorts bekannte Hausleinen wurde hier bis in unser Jahrhundert hinein auf den fast in allen Familien vorhandenem Webstuhl angefertigt. In Zella arbeitete man in Diensten der Probstei und ab 1802 in dem daraus hervorgegangenen Kammergute. Außerdem gab es in Zella mehrere Stellmacher.


So sehr sich die Menschen in der Rhön auch um einen besseren Lebensunterhalt bemühten, blieb doch die Armut bis in unser Jahrhundert ein beständiger Gast.
Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts begann Amerika mit dem Aufbau eines Industriestaates. Besonders aus Europa warb man Siedler an. Man lockte mit günstigen Krediten zum Erwerb von ehemals indianischem Land. Die folgende große Auswanderungswelle erfasste ganz Deutschland so auch die Rhön.
Um jedoch auswandern zu können waren bestimmte Voraussetzungen notwendig: Ein Antrag auf Ausreise musste bei der heimatlichen Amtsverwaltung gestellt werden. Daraufhin erfolgte die Ausschreibung des Ausreisewilligen in allen heimatlichen Amtsblättern und Zeitungen, wobei man eventuelle Gläubiger aufforderte ihre Schulden einzufordern, und Schulden hatten viele in dieser Zeit. So mancher Kleinbauer war durch Geldanleihe um den Besitz seines Hofes gekommen. Die Pfandbesitzer waren meist reiche Händler oder Adelige.
Dies bedeutete, dass ein erheblicher Teil des Ertrages aus Viehwirtschaft und Ackerbau für eine gewisse Zeit an den Pfandbesitzer gezahlt werden musste. Man arbeitete sozusagen als Lohnarbeiter auf dem eigenen Hof. Der Rückerwerb war erst nach Begleichung der Schuldsumme möglich. So hart dies auch war, so war es doch eine Chance für viele, die Familie mit dem mindesten an Nahrung und Kleidung zu versorgen und gleichzeitig die Schulden abzuzahlen.
Eine Ausreisegenehmigung in die verheißungsvolle „neue Welt” konnte man also nur erhalten, wenn man Schuldenfreiheit nachweisen konnte. Darüber hinaus musste eine Ablösesumme an das heimische Amt gezahlt und auch die Kosten für die Schiffsüberfahrt aufgebracht werden. Da viele keine Zukunftschance in der eigenen Heimat sahen, verkauften sie Hab und Gut um die Ausreise zu ermöglichen.


In den ärmsten Rhöndörfern war die Zahl der Auswanderer am höchsten. So z.B. in Frankenheim. Hier betrug die Auswanderungsrate 14 % der Gesamtbevölkerung. Auch in Kaltennordheim wanderten zirka 11 % aus. Einige verdingten sich auch in den Hafenstädten Hamburg, Bremer Hafen oder Kiel als Hafenarbeiter, in der Absicht, das Geld für die Überfahrt zu verdienen und wurden schließlich in diesen Städten sesshaft. Andere begaben sich auf die abenteuerliche Schiffsreise in Richtung Amerika. Wie später von Überfahrenden berichtet wurde, waren die Schiffe oft völlig überladen. Sicherheitsvorschriften spielten so gut wie keine Rolle. Von Unterernährung und Seekrankheit geschwächt, waren die Menschen anfällig für Krankheiten. Typhus, Nervenfieber und Schwindsucht gingen unter den Passagieren um, und manch einer hat das ersehnte Land nicht erreicht.
Wohl wenige sind zu Reichtum gekommen. Von vielen der Ausgewanderten haben Verwandte und Freunde in der Heimat niemals wieder ein Lebenszeichen gehört.
Einen Einblick in die Lebensverhältnisse im vorigen Jahrhundert in der Rhön ergibt die Gegenüberstellung der folgenden beiden Speisezettel, - Statistische Untersuchungen, „Beiträge zur Kenntnis der Rhön" von Ddr. Lübben, Weimar 1881.


No IV. Ordentlicher nicht wohlhabender Haushalt: Einige Gebrechliche und Waisenkinder gegen Entschädigung in Pflege. Hausherr 40 J., seine Frau 33 J., Kinder von 15, 13, 10, 10, 9, 6, 2, und 1 Jahr, außerdem an Gebrechlichen 2 Männer von 49 und 45, 2 Frauen von 78 und 53 J. Verbraucht sind während der Versuchszeit vom 31. Oktober bis 7. November 1880 (incl.) Brod 43,5 Kilogramm, Semmel 4,6 Kilogramm, Butter 405 g, Schmalz 165 g, Speck 555g.


31. Okt.
Kaffee (30 g Kaffee, 10g Runkeln) mit Milch (1 1/2 Liter). Kartoffeln (27 Pfd), Fleisch (2 1/2 Pfd.), Milch (1/2 Liter). Kaffee (30 g Kaffee, 10g Runkeln) mit Milch (1 1/2 Liter) und Kartoffeln (7 1/2 Pfd.)


1. Nov.
Kaffee (30 g Kaffee, 10g Runkeln) mit Milch (1 1/2 Liter) Erbsen (3 Pfd.), Mehl (1 Pfd.), Eier (3 Stück). Milch (2 1/2 Liter), Mehl (1 1/2 Pfd.), Eier (3 Stück).


2. Nov.
Kaffee (30 g Kaffee, 10g Runkeln) mit Milch (1 1/2 Liter) Fleisch (1 1/2 Pfd.), Reis (1 Pfd.), Eier (3 Stück). Kaffee (45 g Kaffee, 10g Runkeln) mit Milch (1 1/2 Liter)


3. Nov.
Kaffee (30 g Kaffee, 10g Runkeln) mit Milch (1 1/2 Liter) Rindfleisch (1 1/2 Pfd.), Gries (1 Pfd.), Kartoffeln (10 Pfd.). Kaffee (30 g Kaffee, 10g Runkeln) mit Milch (1 1/2 Liter), Mehl (1 1/2 Pfd.)


4. Nov.
Kaffee (30 g Kaffee, 10g Runkeln) mit Milch (1 1/2 Liter) Fleisch (1 1/2 Pfd.), Kartoffeln (8 1/2 Pfd.). Kaffee (30 g Kaffee, 10g Runkeln) mit Milch (1 1/2 Liter), Kartoffeln (8 Pfd.)


5. Nov.
Kaffee (30 g Kaffee, 10g Runkeln) mit Milch (1 1/2 Liter) Fleisch (1 1/2 Pfd.), Graupen (1 Pfd.), Eier (4 Stück). Kartoffeln (8 3/4 Pfd.)


6. Nov.
Kaffee (30 g Kaffee, 10g Runkeln) mit Milch (1 1/2 Liter) Kartoffeln (11 1/2 Pfd.), Mehl (4 Pfd.), Fleisch (1 1/2 Pfd). Eier (4St.) Biermilchsuppe, Milch (2 1/2 Liter), Bier (1 1/2 Liter), Zucker (60 g), Eier (5 Stück).

 


7. Nov.
Kaffee (30 g Kaffee, 10g Runkeln) mit Milch (1 1/2 Liter) Fleisch (2 1/4 Pfd.), Graupen (1 1/4 Pfd.), Eier (4 Stück) Kaffee (40 g Kaffee, 10 g Runkeln), Milch (1 1/2 Liter), Fleisch (1 3/4 Pfd.), Kartoffeln (9 1/2 Pfd.), Essig (1/2 Liter).


No. III. Verschuldeter Haushalt Hausherr 45 J., Frau 45 J., Tochter 16 J. Während der 7tägigen Beobachtungszeit (vom 23. bis 29. Jan. 1881 incl.) wurden verbraucht 11,5 Kilogramm Brod, 250 g Salz.


23. Jan.
Kaffee (8 g Kaffee, 17 g Runkeln) und Milch (1/4 maass). Sauerkraut (2 Pfd.), Mehl (1 1/2 Pfd.), Fett (1/4 Pfd.), Milch (1/2 Maass), Hefen (3 Pfd.) Kaffee (8 g Kaffee, 17 g Runkeln) und Milch (1/4 maass), und Kartoffeln (3 Pfd.)


24. Jan.
Kaffee (8 g Kaffee, 17 g Runkeln) und Milch (1/4 maass). Suppe von Kartoffeln (1 Pfd.) und Rindfleisch (1/2 Pfd.) Kaffee (8 g Kaffee, 17 g Runkeln) und Milch (1/4 maass), und Kartoffeln (3 Pfd.)


25. Jan.
Kaffee (8 g Kaffee, 17 g Runkeln) und Milch (1/4 maass). Erbsensuppe (Erbsen 1 1/2 Pfd. und Fett 1/4 Pfd.) Kaffee (8 g Kaffee, 17 g Runkeln) und Milch (1/4 maass), und Kartoffeln (3 Pfd.)


26. Jan.
Kaffee (8 g Kaffee, 17 g Runkeln) und Milch (1/4 maass). Reissuppe mit Rindfleisch (Reis 1/4 Pfd., Rindfleisch 1/2 Pfd, 1 Ei) Kaffee (8 g Kaffee, 17 g Runkeln) und Milch (1/4 maass), und Kartoffeln (3 Pfd.)


27. Jan.
Kaffee (8 g Kaffee, 17 g Runkeln) und Milch (1/4 maass). Kartoffelgemüse (Kartoffeln 3 Pfd., Butter 1/4 Pfd., für 3 Pf. Essig) Kaffee (8 g Kaffee, 17 g Runkeln) und Milch (1/4 maass), und Kartoffeln (3 Pfd.)


28. Jan.
Kaffee (8 g Kaffee, 17 g Runkeln) und Milch (1/4 maass). Linsensuppe (Linsen 1 1/2 Pfd. und Fett 1/4 Pfd.) Kaffee (8 g Kaffee, 17 g Runkeln) und Milch (1/4 maass), Hering und Kartoffeln (3 Pfd.)


29. Jan.
Kaffee (8 g Kaffee, 17 g Runkeln) und Milch (1/4 maass). Graupensuppe mit Rindfleisch (Graupen 1/4 Pfd., Rindfleisch 1/2 Pfd.) Kaffee (8 g Kaffee, 17 g Runkeln) und Milch (1/4 maass), und Kartoffeln (3 Pfd.)

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